Streng geheim! Kapitel 9 – Heimwerker-Teststrecke auf der R95

Bis auf das Autovergessen beim Tanken wiederholt sich die Prozedur mehr oder weniger im ähnlichen Stil. Man muss sich ja der Sache nähern, falsche Einstellungen finden, damit man weiß, wo das Optimum ist. Natürlich sind die ganzen Ergebnisse dokumentiert, diskutiert – und dann die Entscheidung: Die endgültige Einstellung einbauen und Bremswege messen. Wir sind mittlerweile in der zweiten Woche! Bremswege sind das Maß der Dinge. Je kürzer der Bremsweg, desto besser der Regler.

Fahrzeug aufrüsten zum Bremswegmessen:
Felix baut an die Hängerkupplung ein Messrad. Das ist ein Rennradrad mit ziemlich genau zwei Metern Umfang. Ein Sensor wie an den Fahrzeugrädern zählt die Impulse von einem Zahnrad, das an der Nabe angebaut ist und zweihundert Zähne hat. Also für jeden Zentimeter Umfang einen. Das heißt, wir können Zentimeter messen. Das Rad läuft frei hinter dem Fahrzeug mit, sieht fast aus, als schaut ein Teil Fahrrad aus dem Kofferraum. AAABER! Rückwärtsfahren ist streng verboten, weil das das Rad nicht mitmacht und wie ein Hänger zur Seite klappt und sich dann von der Stoßstange hinterhältig unters Fahrzeug drücken lässt und Felix wieder Arbeit hat, das alles gerade zu biegen. Wir haben ihn nicht nur für solche Sachen dabei, aber hauptsächlich. Steckdosen, Heizung, Räder entachtern. Und über dumme gefräßige Inschinöre ablästern, die nicht Auto fahren können.

Beim aus der Garage fahren hält er das Rad hoch, läuft mit und so kann man ohne Schaden rückwärtsfahren.

Nebenbei mal: Wenn man mit Messrad am Heck aufm See einen Driftanfall bekommt und das Fahrzeug rückwärts in den Schnee donnert, braucht man vieeel Demut, das zu beichten. Nun muss man sich eine Messung zurechtlegen, bei der das passiert ist – mit optimal eingestelltem System… – glauben tut er uns schon lange nichts mehr.

Er hat dann irgendwann, in einer Phase tiefster mit Wut gewürzter Depression eine Vorrichtung gebaut, die das Rad hochschnappen lässt, wenn der Winkel zwischen Fahrzeugstoßstange und Rad bedrohlich klein wird. Es funktioniert auch, nur schwingt das Rad nach und wenn dann gerade der Schneewall kommt…dumm gelaufen. Ich glaube, irgendwann setzt er den Fahrersitz unter Strom, wenn das Rad verbogen wird.

Zum Verständnis, die Originalräder sind tierisch teuer, aber nicht so reparaturfreundlich, weil der Hersteller nicht gedacht hat, dass solche Hirnis wie wir damit unterwegs sind. So hat Felix ein paar Räder in Filigrantechnik nachgebaut. Robuster, Leichtbau, aus Panzerrohr- das sind die stabilen dünnwandigen Röhrchen, die man früher zum Verlegen von Elektrokabeln verbaut hat – Räder ausgewuchtet bis 200 km/h und vieeel genauer, wie gesagt, wir messen Zentimeter. Und jetzt kann der werte Leser abschätzen, was es heißt, Felix‘ Kunstwerk mutwillig im Tran zu verbiegen.

Bremswegmessen: Auf dem Armaturenbrett ist mit „Affenkitt“ – das ist eine Art Kaugummi, der sich wieder lösen lässt, aber tierisch gut klebt, haben wir büchsenvoll dabei – festge“pappt“, mit einem Kabel zum Fahrzeug und dem Messrad am Heck verbunden. Das Kästchen hat zwei „Digital“-Anzeigen. Eine für die Geschwindigkeit, die andere für den gemessenen Bremsweg. Beispiel: Bremswege aus 100 km/h. Man sucht sich ein Stück Fahrbahn auf dem Eis, das etwa zwanzig oder dreißig Messfahrten aushält. Setzt einen Pylon (das sind die rot-weißen Gummihüte aus den Baustellen) an den Anfang, versucht, mit einem selbst erfahrenen Anlauf auf die 100 zu beschleunigen. Der Anlaufstartpunkt wird mit einem zweiten Pylon markiert und schon kann es losgehen. Start am ersten Pylon, beschleunigen auf etwas mehr als 100, kurz vor dem zweiten Pylon die 100 erreichen – laut Anzeige unseres Kästchens und dann voll in die Eisen – heißt, voll aufs Bremspedal. Hierbei wird über den Bremslichtschalter ein Signal erzeugt, das die Geschwindigkeitsanzeige festhält und die Wegzählung bis zum Stillstand laufen lässt.

Damit ein gesichertes Ergebnis zustande kommt, muss man schon mal zehn Messungen mit einer Einstellung fahren. Wenn man zwei oder mehrere Systeme oder Varianten zu vergleichen hat, muss nach jeder Messung getauscht werden, damit man an den Ergebnissen sieht, ob die Werte stabil bleiben oder wann sie allmählich und alle „weglaufen“, das heißt die Bremswege immer länger werden. Dann kann man getrost aufhören und versuchen aus dem Rest was raus zu lesen oder woanders wieder von vorne anfangen. Die Werte werden direkt nach der Messung immer auf ein Formblatt geschrieben, hinterher auf exakt 100 km/h gerechnet. Man schafft ja nicht immer exakt die 100. Außerdem muss man die Bremsscheibentemperatur (messen wir natürlich auch) in etwa dem gleichen Bereich halten, das heißt, die Runde und Rückfahrgeschwindigkeit muss so bemessen sein, dass am Anbremspunkt wieder gleiche Bedingungen herrschen. Außerdem muss auch immer wieder mal ne Blockiermessung dazwischen sein, damit man die Bremswegverkürzung gegenüber der Bremsung mit blockierten Rädern kennt.

Jahh, wenn’s so einfach wäre, wär ABS im Kindergarten entwickelt worden. Wenn ein Messdurchgang ungefähr zwei bis drei Minuten dauert, zwei Systeme vergleichen, 20 Messungen, ohne Mistmessen, ist dann schon mal ne Stunde oder auch mehr weg.

Noch schnell ein Nachtrag zum „Systemtausch“. Das heißt, wir haben an unserem elektronischen  Wunderwerk auf der Rücksitzbank kleine Schalter – und auch nicht nur zwei! Nach jeder Messung den Hauptschalter in der Mittelkonsole, also Spannungsversorgung für die Kiste, AUS, nach hinten beugen – deswegen die Bandscheibenübung beim Kalibrieren – zwei Schalter umlegen, Hauptschalter wieder an, gelbe Kontrollleuchte im Armaturenbrett geht aus, mental entspannen – ABS ist an.

Da war doch dann auch die Vergleichsmessung, die von zwei Kollegen gemacht wurde,  – dass es nicht so langweilig ist. Es mussten zwei unterschiedliche Reglerstände vermessen werden. Als die gesamte Messreihe fertig war, haben sie festgestellt, dass im Hintergrund  eine weitere Elektronik immer geregelt hat, die Unterschiede aber dennoch vorhanden waren. Bemerkt haben sie es, als sie die Kiste vom Rücksitz haben ausbauen wollen und gar kein Stecker vom Fahrzeug angeschlossen war. So, nu erklär das mal einer.

Die Rache der Natur am Ingenieur – Kaltstart:

Der einheimische Wetterdienst – Harolds Knie – verspricht heute Nacht minus 30 und morgen minus 35 Grad Celsius – die üblichen wichtigen Stellen hintem Komma sparen wir uns – kallllt. Das Fahrzeug wird präpariert, startklar positioniert. Die Messtechnik getrimmt, Fuzzy nachgetankt, frisches Papier im Schreiber, also alles perfekt. Naja, fast alles. Auftrag: Fahrzeug starten, Messtechnik anwerfen, Schnellkalibrierung, auf den Teich fahren OHNE zu bremsen, erste Messung aufzeichnen, zweite Messung und so weiter, bis die Brühe warm ist.

Morgens um sieben, also zwischen Aufstehen und Aufwachen. Man sollte vor dem Frühstück nicht arbeiten. Sollte man dennoch vorm Frühstück was tun müssen, sollte man vorher frühstücken. Aber Gunn-Marie kommt erst weit nach sieben. Notgedrungen gehen wir etwas früher ins Bett, man muss ja fit sein für die Kälte.

Gleich nach dem Erwachen des Weckers schleich ich mich zum Auto. Es ist so schweinekalt, dass einem der Inhalt der Nase einfriert. Gut gegen Schnupfen. Krümelnießen. Die Kollegen haben gewarnt, Handschuhe anzuziehen. Da hast du kein Gefühl und der Schlüssel flüchtet aus deiner Hand in den Schnee. Hast du schon mal in zehn Zentimeter Schnee nach einem Schlüssel gesucht? Also.

Der Rest der Hosentaschenwärme hat den Schlüssel soweit angewärmt, dass sich die Türe aufschließen und öffnen lässt. Der Sitz ist steinhart und saugt dir die letzte Wärme aus der Hose. Hinten wird es kalt. Die gleiche Kälte scheint das Lenkrad auszustrahlen. Nicht anlangen – zunächst mal. Schlüssel ins Zündschloss fummeln, die rechte Hand nimmt keine Befehle mehr an. Also Handwechsel, mit Links unterm Lenker durch den Zündschlüssel drehen. Vorne aus dem Motorraum kommen Geräusche, die nichts Gutes verkünden. Dann eben nicht. Das getretene Kupplungspedal bleibt beharrlich am Bodenblech. Die Türe schließt auch nicht, weil das Schloss in der Offen-Stellung verharrt.

Dann halt – nur zur Beruhigung – noch ein Versuch. RRH – RH – rrhhh. Pott pott pott.

Na also, geht doch, aber von Fahren war nicht die Rede. Das Messtechnikkabel hängt ja noch an der Leidensdose – neiiin – plopp – doch. Handbremse, Fuzzy anwerfen, er hat Erbarmen und läuft sofort, komisch, ist bestimmt was faul!

Wieder auf den Fahrersitz – immer noch steinhart – Bandscheibe Nummer drei meldet sich.

Mit Links die Türe zuhalten und mit Rechts den Gang rein. Ist aber auch nicht möglich, weil das Öl wahrscheinlich den Aggregatzustand gewechselt hat. Tiefstes Erstaunen! Die Kiste fährt ohne Gang – als dann die Kupplung doch nachgegeben hat. Gas geben geht auch, nur mit der Geschwindigkeit hapert es. Irgendwas zwischen schleichen und zu schnell fürs Abspringen. Lenken geht nur mit vier Fingern – hier hätten Handschuhe, wenigstens einer was gebracht, aber Messaufbau bedienen mit Handschuhen?

Hotel Silverhatten Ende der 70er

Steig mir in die Tasche, ich mach die Messung den Hotelberg runter. Glatt ist glatt.

Denkste. Festgefahrener Schnee, auch mit Schneeauflage ist so glatt wie nasser Beton. Also fast nicht. Aber unser ABS regelt vergnügt vor sich hin, nur bremst es nicht richtig, aber es wird mit jedem Meter besser. Ich schau den Messschrieb an – oder das was da hinten aus dem Schreiber rauskam. Natürlich, jetzt wusste ich das auch. Kaltes Schreiberpapier lässt sich nicht so richtig beschreiben. Die Spuren, sonst Strichbreite, sind jetzt etwa fünf Millimeter breit, es ist nix zu sehen. Da fällt mir spontan der Ausspruch aus dem Bauernkrieg ein, der aus dem Fenster für den Herrn.

Außerdem war beim Fahren so ein Hoppeln im Fahrzeug. Warum sollen eigentlich die Reifen diesen Temperaturen widerstehen?? Alle vier haben ne Standbeule. Und wieder kommt die Frage hoch: Was mach ich hier eigentlich? Und für wen? Klar – für Euch Säcke von heute, ABS und Sitzheizung serienmäßig, steht draußen in der warmen Garage.

Beim Frühstück erfahr ich, dass das mit dem Papier eigentlich klar war – nur mir nicht, aber auch Inschiniöre lernen. Morgen ist es auch noch kalt.

Mue-split – muss erklärt werden:

Mue ist der griechische Buchstabe des Begriffs, der für Reibwert zwischen Straße und Reifen steht. Mue 0.1 ist glatt, mue 0.9 oder 1 ist griffig wie warmer Asphalt auf Malle. Wenn der Fahrbahnrand ungefähr einen halben Meter breit eisglatt ist, die Straßenmitte jedoch  trocken, nennt man das mue-split. Wenn man nun auf dieser Straße bremst, passiert folgendes: Auf Asphalt hätt ich einen Bremsweg von sagen wir zehn Meter. Auf Glatteis mit der gleichen Geschwindigkeit fünfzig Meter. Da das Auto das so nicht kann, dreht es sich um die Hochachse, also um sich selbst in Richtung Asphalt. Panorama sozusagen, mindestens drei Runden, bevors einem schlecht wird. Wenn man aber zwischendurch die Bremse loslässt erhöht sich der Lustgewinn, weil niemand weiß, wohin sich nun das Fahrzeug – meist von der Straße  – hinwegbewegt. Mit etwas Glück schaufelbar …

Also Lieblingsarbeit für unser ABS, das mit seinem schlauen Algorithmus (Reglerlogik) die Gefahr abwendet und dem Fahrer das Drehen langsam vermittelt, damit er gegenlenken kann. Soweit die Theorie. Nun zur Praxis. Das muss ja entwickelt und erprobt werden. Teststrecke steht im Lexikon und dieser Straßenzustand steht uns nur auf öffentlichen Straßen zu Verfügung. Es wurde nicht nur ein Fahrzeug aus dem Wald geholt. Immer mit einem Kilo Glück, weil in Schweden die Abstände zwischen Straße und Bäumen meist zehn Meter sind, mit Graben, halt drüber dann, wenn.

Die Schwedischen Straßen haben den Vorteil, dass sich dieser Straßenzustand meist im Februar, März von selbst einstellt. Sollte es aber zwischendurch mal schneien, dann eben wieder nicht.

Wir testen an Stellen, die übersichtlich sind und bei der Verkehrsdichte, grob geschätzt, alle halbe Stunde mal ein Auto, geht das, aber wenn sich das Wetter mit allen zur Verfügung stehenden Tricks gegen uns stellt und auf lange Sicht kein mue-Split zu erwarten ist, muss der Ingenieur auch da helfen. Dem Inschinör ist nix zu schwör und … so fragen wir eben bei David nach, wie man auf die Schnelle an mue-Split rankommt. David und Pelle wären nicht so legendär berühmt geworden, wenn sie schon hier gekniffen hätten.

David und Pelle präparieren den Silbervägen (R95)

Mit zwei einfachen Verkehrszeichen zeigen sie dem Verkehr auf der R95 – (Bundesstrassenstatus und einzige Ost-Westverbindung im Kreis der nächsten 50 Meilen !), dass sich hier was Besonderes abspielt. David und Pelle stehen im Schneegestöber in der Straßenmitte mit zwei Gasflaschen und tauen die Straße auf. Fünfzig Meter lang. Die erste landgebundene Teststrecke im Großraum Arjeplog – verkehrsgünstig gelegen. Ein knapper Telefonanruf erreicht uns, schnörkellos und bestimmt: „David speaking . You can test now.“

Da uns das mit dem Testen auf der R95 nicht so geheuer war, schon gar keine Langzeitlösung war, haben wir uns – kommt später noch öfter vor – an der Bar Gedanken gemacht, wie man das auf dem See installieren kann. Engineering der anderen Art.

Da das Ganze in einer späteren Wintererprobung war, machen wir heute mal Schluss und gehen in die Sommerpause, sorry, muss aber sein.

Ich hoffe auf Euch wieder im Dezember… und stellt Euch halt n Wecker.
Kommt gut übern Sommer und bleibt gesund!

©Jürgen Zechmann