Streng geheim! Kapitel 6 – Was mach ich hier eigentlich?

In Erinnerung an David Sundström

Gegen zehn ist es so hell, dass man draussen was sieht und uns zieht es zum See – dem Zugefrorenen. Hornavan – Schwedens tiefster See, 170 KILOMTER lang, 221 Meter TIEF! Wir nehmen den Eisbohrer aus der Garage mit – das ist ein Bohrer mit zehn bis zwölf cm Durchmesser und ungefähr zwei Meter lang mit einer Kurbel dran. Handbetrieb. Wir wollen ja wissen, wie dick das Eis ist vorm Drauffahren.

David Sundström – Icemakers

Hinunter ins Dorf, an der Tanke von Lennard vorbei, Richtung Touristflyg, am Hangar entlang und die Zufahrt zum „See“ gesucht. Aus dem Hangar kommt eine Pelzmütze mit himmelblauem Steppanorak und grünen Hosen, die in Filzstiefeln stecken. „Hej Hej, hur mår du? Welcome to Arjepluuug. Come and see.” David begrüßt uns, mein Kollege gibt mir einen Schnellkurs in „Who is who“ in Arjeplog und ohne viel Gerede lädt uns David ein, den „See“ zu erkunden. „It’s not so cold today.” – Minus zehn? Na dann eben not so cold. Mir ist trotzdem kalt.

Wir folgen seinem rostroten Traktor. Er fährt eine lange Schleife ungefähr einen Kilometer auf den See hinaus. Unten tanzen wieder die Schneegeister, oben verdünnt sich eine schwarze Dieselwolke mit der kalten, klaren, sauberen Luft. Es eröffnet sich eine lange Gerade, ein Kilometer lang, etwa zwanzig Meter breit. Weiter hinten glänzt eine dunkle Fläche mitten in der Bahn. Poliertes Eis. Die Landebahn des Arjeplog Winter Airport. Jahaah, der Hangar ist das Empfangsundabfertigungsgebäude mit integrierter Werkstatt und Hubschraubergarage. Alles in himmelblau und gewellt.

Wieder etwas zum erklären:

Wir sind ja nicht das erste Jahr hier. Letztes Jahr haben die Kollegen bei den Einheimischen gefragt, ob es nicht möglich ist, dass jemand aus dem Dorf die Piste präpariert. In den ersten Jahren haben das die Techniker selbst gemacht. Da gab es nur die „Landebahn“, die Eisfläche haben sie mit Besen präpariert. Wasser aus Eislöchern gepumpt, eine große Fläche geflutet und gewartet, bis es gefroren war. Die Pumpe haben sie von der Feuerwehr ausgeliehen und wenn die Temperatur und die Luftfeuchtigkeit grade so mal gepasst haben, lag das gesamte Dorf innerhalb kürzester Zeit im dicksten Nebel. Ingeniös eben. Zum Eispolieren haben sie sechs oder acht Besen aus den Järnhandel (Baustoffhandel in Garagengrösse) mit einer Dachlatte zusammengenagelt, zwei Stiele dran und so haben zwei Mann eine Kehrbreite von 4 Metern gehabt. Der Rest war Übung.

Die lange Gerade war der Anlauf, dann etwa 100 Meter poliertes Eis und dann nochmal 150 Meter Auslauf, wenn es mal wieder nicht so richtig gebremst hat. Anlauf, ja 100 km/h oder etwas mehr waren das schon. Mit normalen Winterreifen der Generation 1975.

Wer also testen wollte, musste vorher kehren. Wenn es tagsüber schneite, kehrten zwei und einer fuhr sein Pensum ab. Bis dann die Faulheit wieder siegte, das Engineering durchbrach und im drauffolgenden Jahr die Hofkehrmaschine der Firma mitgebracht wurde. Klar, im Hänger, wir hatten nichts anderes. Die Trucker kamen ja erst im März.

Natürlich hat unser ABS nicht sofort und optimal funktioniert, das wäre ja langweilig gewesen. Deshalb war die Grundausrüstung eine Schaufel und ein paar Abschleppseile im Kofferraum. Immer Handschuhe, Mütze, Schal und Hoffnung dabei. Wenn einer pro Winter nicht mindestens zehnmal geschaufelt hat, hat er nichts ausprobiert. Deshalb musste jeder, der von Kollegen Hilfe beanspruchte, abends nach dem Essen eine Flasche „Mattheus Rose“ spendieren. Das war der günstigste, trinkbare Wein. Aber bald haben wir das Procedere aufgegeben, soviel kann keiner trinken. Es gab aber auch Kollegen, die schaufelschwingend in Drohgebärde ums Auto kreisten, die feixenden Kollegen am Helfsschaufeln zu hindern, damit sie keinen Mattheus spendieren mussten. Ich hab aber auch schon Kollegen bei minus zehn Grad im T-Shirt schaufeln sehen. … Wenn’s mal wieder länger dauert. Jaaah, man kommt da schon mal ins Schwitzen.

Wir haben auch mal angefangen, Fähnchen auf ´ne Karte an der Bürowand zu stecken, aber irgendwann gehen auch die Fähnchen aus. Das ABS ist ja auch besser geworden. Die ungeplanten Ausflüge reduzierten sich, werden aber heftiger. Der Mut nimmt zu.

Wenn es viel geschneit hatte, umgab eine meterhohe Bande die Teststrecke. Das heißt, dass man dann zwar eine Schneise im Schnee sah, aber kein Auto. Das steckte dann dahinter bis zu den Scheiben im Schnee. Da kommt Freude auf.

Von innen fühlte sich das dann so an: Du trittst auf die Bremse – bei 100 und erwartest das mittlerweile vertraute Geräusch bei der ABS-Regelung Brrbrrbbrbbrbbrrmmm . Tritt auf die Bremse und Sch… bis zum…, durch und hintern den Wall. Alle Räder stehen still, wenn mein starker Fuß es will. Wer starke Beine hat, hat auch starke Arme.

Du versuchst vorsichtig die Türe zu öffnen, dich durch den Spalt nach draußen zu drücken, um bis zu den Knien im Schnee zu versinken. Das erhebendste ist aber dann, wenn der Schnee dir die Hose nach oben schiebt, du immer noch keinen Grund unter den Füssen hast, hoffst inständig, dass immer noch Eis unter dem Schnee ist und du dann beim Anheben des Beines Schnee in die Schuhe sammelst, der dann sofort schmilzt und eine angenehme Kühle am Fuß verbreitet. Du merkst, dass es ganz langsam anfängt, aber du hast keine Chance, dem zu entgehen. Das Bein muss runter und dann wieder hoch.

Bis zum  Kofferraum – Schritt für Schritt- , die Schaufel hinter dem noch immer laufenden „Fuzzy“ (Stromgenerator für die Messtehnik) hervorgekramt, am Auspuff den Arm verbrannt und durch das hinten aus der Hose rutschende Hemd angenehme feuchte Kühle und die Einschläge der einzelnen Schneeflocken gespürt.

Was mach ich hier eigentlich?

Natürlich kein Kollege weit und breit. Der Blick auf die Uhr sagt, alle beim Mittagessen. Nicht alle, eine einziger … Vor einer Stunde kommt da keiner. Also los, Mittagessen verdienen. Hast Du schon mal Pulverschnee geschaufelt oder Harsch? Du hast keine Ahnung von was ich rede. Das ist wie Spaghettiessen mit Stäbchen und nur mit einem. Außerdem sind sie verkocht, nix al dente. Der Hals schwillt.

Mittagessen um halb zwei. Du bist hungrig, angefressen und hast ´ne Laune zum Bärenumbringen. Essen was übrig ist und das ist kalt. Die Kollegen kommentieren mit Häme, die Vorderfront deines Autos zeigt deutliche Spuren des Einschlags. Der Kühler ist mit Schnee verklebt, wie frisch gespachtelt. Ein Loch klafft in der Kunststofffront. Teile davon hat der Schnee als Wegezoll behalten. Die Nebelscheinwerfer – irgendjemand wollte uns damit was Gutes tun – sind nach hinten weggeklappt und schauen Richtung Boden. Mit Felix, dem Herrn der Garage diskutieren, dass er dein Auto mit in die enge Garage lässt zum Auftauen. Du sitzt später drei Stunden im Büro und suchst auf deinen Messschrieben die Ursache deines Abflugs. Klar, der Kollege, der die Reglerlogik erdacht und eingebaut hat, fühlt sich mit verantwortlich. Das hilft meiner Stimmung, meinen nassen Schuhen und Hosenbeinen nichts. Ich geh erst mal umziehen. Er zwirbelt weiter versonnen an seinem Bart und denkt über den Messschrieb gebeugt nach.

„Messschriebe“ – Schreibtisch zu klein

Büroarbeit. Messschriebe dokumentieren. Stempeln, ausfüllen: Datum, Fahrzeug, Nummer, Fahrbahn, Gang, Reglerstand, Außentemperatur. Das Ganze auf jeden Schrieb. Und man macht ja gleich drei oder vier mit denselben Bedingungen, dann ändert man den Bremsdruck, nieder, mittel, hoch, flach antreten, steil antreten und schwupps, sind es 20 Schriebe, jeder etwa zwei Meter lang. Auflösung fünfzig Millisekunden pro Zentimter. Endlosmaterial will in DIN A 4 quer gefaltet sein zum Ablegen in einem der vielen vorbereiteten – alle mitgebracht – Ordner. Die Erfindung der Schriebfaltmaschine beginnt Formen anzunehmen.

Seitlich ein vorgelochtes Papierteil drangeklebt, einhängen – fertig. Wenigstens dokumentiert – noch nicht ausgewertet!

Die Ordner füllen sich. Die Haken an der Aufgabenliste werden mehr. Die Einschläge nehmen ab, Darwin wirkt hier auch.

 

©Jürgen Zechmann